Modelle für den Verlauf der Pandemie Drei Szenarien für den Coronawinter

Von Julia Merlot

18.10.2021, 16.28 Uhr

Auf Deutschlands Intensivstationen müssen in nächster Zeit wohl wieder mehr Menschen mit Covid-19 behandelt werden. Ein Team um die Physikerin Viola Priesemann hat errechnet, was auf uns zukommen könnte. Winter in Hannover: Mit der kalten Jahreszeit steigt die Zahl der Atemwegserkrankungen
Foto: HENNING SCHEFFEN PHOTOGRAPHY / imago images/Henning Scheffen

Als im Mai 2021 die dritte Covid-19-Welle abebbte, hatten Modellierer und Modelliererinnen in Deutschland einen schlechten Stand. Sie wurden verunglimpft und angefeindet, ihnen wurde vorgeworfen, die Coronakrise dramatisiert zu haben. Einige der berechneten Szenarien waren nicht eingetreten. Allerdings war gerade das der Wert der Modellrechnungen.

Sie zeigten frühzeitig an, welche Entwicklungen unter bestimmten Voraussetzungen zu erwarten waren - und ermöglichten rechtzeitiges Gegensteuern der Politik und der Bevölkerung, um Dramatisches zu verhindern. Modellrechnungen sind so bis heute hilfreich, um abzuschätzen, wie sich die Coronapandemie unter verschiedenen Bedingungen entwickeln wird.

Diesmal geht es um die zentrale Frage, welche Strategie über den Winter sinnvoll erscheint. Ein Team um die Physikerin und Modelliererin Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation hat die Infektions- und Krankenzahlen für einen mit Deutschland vergleichbaren Staat im Winter und im kommenden Frühjahr modelliert. Die Fachleute kalkulierten die zu erwartende Reaktion der Bevölkerung auf eine starke Virusausbreitung dabei mit ein.

Mehr Kranke, mehr Vorsicht in der Bevölkerung

"Wenn wir etwas vorsichtig sind über den Winter, können wir ganz optimistisch sein", fasst Priesemann die Ergebnisse im Gespräch mit dem SPIEGEL zusammen. Die vergleichsweise geringe Impfquote in Deutschland verkompliziert die Situation allerdings: "The Winter Dilemma", das Winterdilemma, ist der Titel der noch nicht in einem Fachjournal publizierten Arbeit des Teams.

Der Winter stellt in der Pandemie eine Besonderheit dar: Durch niedrige Temperaturen und den vermehrten Aufenthalt der Bevölkerung in Innenräumen breiten sich Atemwegserkrankungen leichter aus. Fachleute nehmen an, dass die Zahl der Ansteckungen mit dem Coronavirus unter ansonsten gleichen Bedingungen in der kalten Jahreszeit ungefähr 40 Prozent höher liegt als im Sommer.

Das Team um Priesemann hat drei Szenarien durchgerechnet. Zum Startzeitpunkt Ende August 2021 weist in dem Modell ungefähr 60 Prozent der Bevölkerung einen sicheren Infektionsschutz auf - entweder durch Impfung oder Infektion oder beides zugleich. In der Zahl ist berücksichtigt, dass die Immunität nach einer Infektion und Impfung mit der Zeit vor allem mit Blick auf den Infektionsschutz nachlässt. Betroffene wurden herausgerechnet.

Das passt grob zur Situation in Deutschland, wobei die Zahl der Genesenen im Modell höher ist als für Deutschland unter Berücksichtigung der Dunkelziffer angenommen wird. Genesene gelten meist aber auch als geimpft. Gut 30 Prozent der Bevölkerung sind in den Szenarien zu Beginn gänzlich ungeschützt, acht Prozent können sich trotz durchgemachter Infektion oder Impfung infizieren, erkrankten aber mit geringerer Wahrscheinlichkeit schwer an Covid-19.

In den Szenarien gelten über den Winter

Gute Viruskontrolle, geringere Impfbereitschaft

Daraus erwächst ein Dilemma: "Je höher die Inzidenz, desto eher beschränken Menschen ihre Kontakte freiwillig und lassen sich impfen. Das haben wir in diesem Modell explizit erforscht", erklärt Priesemann. Umgekehrt gilt: Je weniger sich das Coronavirus ausbreitet, desto niedriger schätzen die Menschen ihr persönliches Ansteckungsrisiko ein. Die Motivation, sich impfen zu lassen, sinkt.

Auch infizieren sich über den Winter weniger Personen, wenn das Virus zurückgedrängt wird, die Zahl der durch Infektion immunisierten, ist anschließend geringer als wenn der Erreger breit zirkuliert.

Die Strategie im Winter entscheidet somit auch über die Situation im Frühjahr, zeigen die Modellrechnungen: Weniger Maßnahmen führen zu einer stärkeren Infektions- und Erkrankungswelle im Winter, begünstigen aber eine hohe Impfquote und einen höheren Anteil Genesener im Frühjahr. Die Lage entspannt sich nach dem Winter.

Gelten im Winter dagegen strengere Regeln, stecken sich zur kalten Jahreszeit weniger Menschen an oder erkranken, dafür sinkt die Impfbereitschaft und es gibt weniger natürliche Infektionen. Werden im Frühjahr dann offizielle Maßnahmen gelockert, droht eine umso heftigere Infektions- und Erkrankungswelle.

"Einerseits bedeutet die Beibehaltung von Einschränkungen eine geringere Covid-19-Inzidenz - und damit geringere Anreize, Kontakte zu reduzieren oder sich impfen zu lassen; dadurch riskiert man eine schwere Welle, sobald die Beschränkungen aufgehoben werden", schreibt das Team um Priesemann. "Andererseits kann eine Lockerung der Beschränkungen über das derzeitige Impfniveau hinaus zu einem Übermaß an Morbidität und Mortalität führen."

Der gangbare Mittelweg

Am realistischsten erscheint daher ein Mittelweg. "Wenn wir ein Viertel der Ansteckungen vermeiden, kommen wir mit Blick auf das Coronavirus ganz gut durch die nächsten Monate", sagt Priesemann mit Blick auf Szenario b). Dieses entspricht in etwa einem weiter wie bisher: Nicht zu viele Großveranstaltungen zulassen und Masken tragen, wo es vertretbar ist.

Zwar werden auch dann die Zahlen der Infizierten und Erkrankten im Winter steigen, es kommt über die kalte Jahreszeit aber zu keiner so heftigen Welle, wie wenn alle Maßnahmen gelockert werden. Zugleich droht nach einer Aufhebung der Einschränkungen im Frühjahr ein leichterer Anstieg bei den Infizierten und Schwerkranken, als wenn das Virus über den Winter sehr stark zurückgedrängt wird.

Zum Vergleich: Im Szenario b) wäre bis zum Ende des Winters mit ungefähr 30.000 Covid-19-Toten zu rechnen. Im Winter 2020/2021 sind in Deutschland nachweislich gut 70.000 Menschen an und mit Covid-19 gestorben, obwohl deutlich strengere offizielle Vorgaben galten.

Im Szenario c) mit nur der Hälfte der Ansteckungen sind dagegen zwar weniger als 6000 Covid-19-Tote im Winter zu erwarten. Allerdings droht im Frühjahr aufgrund geringerer Immunität in der Bevölkerung eine umso heftigere Infektions- und Erkrankungswelle. Nach zwölf Monaten rechnen die Fachleute hier mit um die 50.000 Covid-19-Sterbefällen.

Die meisten Toten, aber immer noch weniger als im vergangenen Winter, erwartet das Team, wenn es wie in Szenario a) keine offiziellen Maßnahmen gibt. In der kalten Jahreszeit würden ungefähr 60.000 Menschen ihr Leben im Zusammenhang mit Covid-19 verlieren. Nach zwölf Monaten wären es ungefähr so viele, wie bei vergleichsweise starkem Gegensteuern allein im vergangenen Winter gestorben sind, also um die 70.000.

Im Mittelweg-Szenario b) steigt die Zahl der Toten nach zwölf Monaten, begünstigt durch die Frühjahrswelle, auf rund 62.000.

Es wird Arbeit geben auf den Intensivstationen

Mit Blick auf die Auslastung der Intensivstationen ist das Mittelweg-Szenario, unter den drei berechneten, allerdings das günstigste. Gut ein Drittel der Belegung vom vergangenen Winter werden hier erreicht. In den beiden anderen Varianten läge die Auslastung im Vergleich zum Winter 2020/2021 hingegen bei um die 50 bis 60 Prozent.

Dafür, die Virusbelastung im Winter doch stärker zu drücken, könnte allerdings sprechen, dass Covid-19 nicht die einzige Atemwegserkrankung ist, die sich zur kalten Jahreszeit vermehrt ausbreitet. So sei etwa eine Grippewelle zu erwarten, erklärte Priesemann. "Es wird also auf den Intensivstationen Arbeit geben." Wie stark sich Grippeviren tatsächlich über den Winter ausbreiten werden, lasse sich allerdings schwer abschätzen.

Auch senkten geringere Corona-Infektionszahlen das Risiko, dass neue, problematische Virusvarianten entstehen, die den langfristigen Erfolg der Impfungen gefährden könnten, schreiben die Fachleute.

Impfen, impfen, impfen

Die berechneten Szenarien sind zudem nur realistisch, solange die Bevölkerung mit Vorsicht auf steigende Infektions- und Erkrankungszahlen reagiert. Ansonsten sei mit einer um ein Vielfaches stärkeren Auslastung der Intensivstationen zu rechnen als in den Szenarien, mahnt Priesemann. Auch könne das Virus verstärkt aus Nachbarstaaten mit hohen Inzidenzen eingeschleppt werden. Im Sommer hatten Fachleute um die Forscherin daher eine einheitliche Corona-Strategie in Europa gefordert.

Wie einfach es gewesen wäre, das Winterdilemma zu verhindern, zeigt der Vergleich mit Szenarien, in denen die Impfquote über 70 oder sogar 80 Prozent liegt, wie es etwa in Dänemark oder Portugal der Fall ist. "Ein Land, das dem Winter mit einer höheren Durchimpfungsrate entgegensieht, wird nicht in das Dilemma geraten", schreibt das Team um Priesemann. Das gelte auch, wenn alle Einschränkungen aufgehoben werden.

In Ländern mit geringerer Impfquote gehe es nun darum, Wege zu finden, Menschen für Impfprogramme zu gewinnen, auch wenn die Fallzahlen niedrig sind. Auch für die weitere Entwicklung der Pandemie in Deutschland ist das entscheidend. Steigt die Quote stärker als in den Modellen erwartet, könnte das zahlreiche Kranken- und Todesfälle verhindern.

Wer weiß, vielleicht gelingt es erneut, die Parameter der berechneten Szenarien - in diesem Fall vor allem die Impfquote -, so zu beeinflussen, dass wir am Ende besser dastehen als vor dem Winter modelliert.


Quelle: spiegel.de 18.10.2021